Sayragul Sauytbay hat hinter die Mauern der chinesischen Umerziehungslager für Uiguren (Uyghuren) und Kasachen geblickt. Sie ist dort Zeugin von Folter und Gehirnwäsche geworden. Nach ihrer Flucht hat sie ihre Erlebnisse in einem Buch verarbeitet. Ein Auszug aus einer beklemmenden Lebensgeschichte.
Die Erlebnisse der 1977 geborenen Medizinerin Sayragul Sauytbay lesen sich stellenweise wie Alexander Solschenizyns berühmter Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Denn Sauytbay hat in den Abgrund des 21. Jahrhunderts gesehen. Als kasachische Staatsbeamtin und Direktorin mehrerer Vorschulen geriet sie in die Mühlen des chinesischen Unterdrückungsapparates. Nachdem ihr kasachischer Mann das Land verlassen hatte, wurde sie mehrmals verhört und schließlich in ein Umerziehungslager gebracht, wo sie ihren Mitgefangenen die chinesische Sprache, Kultur und Politik beibringen musste.
Was sie dort erlebt und gesehen hat, hat die mittlerweile im europäischen Exil lebende Autorin in dem gerade erschienenen Buch „Die Kronzeugin” festgehalten. Es ist ein Bericht aus dem innersten Kreis der Hölle, der dezidiert die Verbrechen der Chinesischen KP gegen Teile der Bevölkerung in der Provinz Xinjiang (Uyghuristan) dokumentiert. Ein Bericht, der aufrüttelt. „Die Rettung der Menschheit besteht gerade darin, dass alle alles angeht”, erklärte Alexander Solschenizyn 1970 bei der Entgegennahme des Literaturnobelpreises. Eine Einschätzung, an der sich wohl nichts geändert haben dürfte. Wir publizieren daher nachfolgend einen kleinen Auszug aus Sayragul Sauytbays Buch, in dem sie ihren ersten Tag im Lager dokumentiert.
Das Lager: Überleben in der Hölle
Kurz vor sechs Uhr schrillte eine kreischend laute Klingel durch das Gebäude. „Wo bin ich?” Mit jagendem Puls fuhr ich hoch, erblickte die Kamera über mir und fühlte mich genauso zerschlagen wie vor dem Einschlafen. Im nächsten Moment schlug jemand an meine Tür. „Fertig machen! Schnell!”
Vor mir befand sich links, durch eine etwa hüfthohe Wand abgetrennt, ein Toilettenbereich mit einem Loch, auf das eine Kamera gerichtet war. Rechts von der Tür ein kleines Waschbecken unter der nächsten Kamera. Hastig drehte ich den Wasserhahn auf, aber nur ein dünnes Rinnsal kam heraus. Damit befeuchtete ich mein Gesicht und putzte meine Zähne. Kamm und Seife gab es nicht.
Ich hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen, stand aber gleich darauf in meiner Uniform mit Camouflage-Muster und einer gleichfarbig gefleckten Schirmmütze, die Jacke bis unterm Hals zugeknöpft, den Kopf gerade, die Hände an den Seiten, wie ein Wachsoldat vor der Tür. Punkt sechs Uhr öffneten sich automatisch alle Türen auf beiden Fluren. Kurz blieb mir die Luft weg. Aus den offenen Zellen der Gefangenen linker Hand strömte ein bestialischer Gestank aus Schweiß, Urin und Fäkalien und verbreitete sich über die Halle hinweg im ganzen Stockwerk. Die Wachen in den blauen Uniformen trugen im benachbarten Trakt einen Mundschutz, auch wenn sie die Zellen betraten.
Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass jedem Einzelnen laut Vorschrift in einer Zelle ein Quadratmeter Platz zur Verfügung stand; in Wirklichkeit drängten sich hier jedoch bis zu 20 Menschen auf 16 Quadratmetern zusammen. Das machte rund 400 Gefangene pro Stockwerk. In einer Zelle verfügten die Gefangenen über einen einzigen Plastikeimer mit Deckel, der als Toilette diente. Nur alle 24 Stunden durfte einer von ihnen dieses Behältnis leeren.
War der Eimer aber bereits nach fünf Stunden voll, blieb der Deckel oben darauf. Selbst wenn die Blase der Eingesperrten bis zum Platzen voll war oder die Gedärme lärmten, mussten sie durchhalten, bis der Eimer wieder geleert war. Das führte bei einigen auf Dauer zu schlimmsten Organbeschwerden und zu einer Luft, die bei allen schwerste Übelkeit verursachte.
Ich bekam nicht mehr mit, wie sich die Gefangenen draußen aufstellten, weil ich mich rechts einer Schlange von etwa sechs Verwaltungsmitarbeitern und anderen Angestellten anschloss, die bei jeder Essenspause mal länger, mal kürzer war. Miteinander reden war verboten.
Schnell stellte sich heraus, dass in dieser Etage unterschiedliche Arbeitsgruppen im Einsatz waren. Das reichte von den Reinigungsfrauen in einfachen Anzügen mit Jackett bis hin zu hochrangigen Offizieren, die schwarze Masken wie Bankräuber trugen, sodass nur Mund, Augen und Nasenlöcher zu sehen waren.
Selbst unter den chinesischen Mitarbeitern spürte man die Angst vor diesen mit Maschinenpistolen bewaffneten Maskierten in ihren geschnürten hohen Lederstiefeln. Wofür sie zuständig waren, sollte ich noch am eigenen Leib erfahren. Jeder einzelne Ablauf im Lager war bis ins kleinste Detail durchorganisiert wie in einem Ameisenhaufen. Schätzungsweise waren auf diesem Stockwerk rund hundert Leute beschäftigt und in Schichten eingeteilt. Ich war hier die einzige Lehrerin und einzige Kasachin in höherer Position. Ansonsten kam auf etwa zwölf chinesische Angestellte ein Einheimischer, aber stets in niedriger Position.
In Begleitung zweier Wachsoldaten bewegte sich ein Teil der Angestellten etwa 25 Meter lang auf eine Doppeltür zu, hinter der wir scharf links zur Küche abbogen. Am Ende dieses Flurs befand sich in der Wand eine fenstergroße Öffnung, durch die eine chinesische Küchenhilfe den Leuten vor mir ein gut duftendes, anständiges Essen zuschob, das meinen Magen knurren ließ.
Zu meiner Enttäuschung erhielt ich als Einheimische nur ein Stück im Dampf aufgeweichtes, matschiges Weißbrot, dazu eine kleine Schöpfkelle, gefüllt mit gekochtem Reiswasser, in dem einzelne Reiskörner schwammen. Anders als mich haben unsere Vorgesetzten die chinesische Belegschaft auch nie bestraft, selbst wenn sie dieselben Fehler gemacht hatten, mal zu zögerlich, zu fahrig oder zu schnell waren …
In einer Reihe marschierten wir nacheinander in unsere Räume zurück. Bevor ich diese fade, salzlose Suppe hastig hinunterschlürfte, schnodderte der Wachmann: „Wenn wir nachher klopfen, bringst du die sauber gewaschene Schöpfkelle zurück mit den anderen zur Küche. Wenn wir nicht klopfen, holst du morgen damit dein Essen wieder ab.” Immer sperrten sie die Tür hinter sich ab.
Um 7 Uhr führten mich zwei andere Wachleute in eines der Büros neben meiner Zelle. Niemals durften sich Mitarbeiter des Lagers unbegleitet bewegen, immer heftete sich mindestens ein bewaffneter Begleiter wie ein Schatten an meine Fersen.
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